Leidenschaft, die Leiden schafft

Ein Umzugswagen fuhr am Nachmittag vor, als Clara und Anna auf dem Balkon von Claras Wohnung standen. Es war ein schöner Sommertag und es wäre schade gewesen, nicht draußen zu sein. Anna ist meistens bei Clara, weil sie keinen Balkon hat, aber nicht nur deswegen. Der Umzugswagen war klein, aber piepste, als er rückwärts in die Straße fuhr. Der Ton wurde von den Hauswänden zurückgeworfen, wodurch es noch lauter klang.
“Wir kriegen wohl wieder neue Nachbarn”, sagte Anna, während sie das Geschehen beobachtete.
Die Wohnung war im fünften Stock, wodurch sie nicht viel sehen konnte. Anna saß auf einem Stuhl und konnte gerade so über das Geländer schauen.
“Ich hoffe, es sind nicht wieder alte Leute”, antwortete Clara, während sie sich auf ihrem Balkon sonnte.
Dabei saß sie auf einem Liegestuhl und trug nur einen Bikini und eine Sonnenbrille.
“Ich hoffe doch nicht, dass es wieder so wird wie bei den Hoffmanns, die bis heute denken, dass wir Schwestern sind”, sagte Anna daraufhin.
Clara lachte nur darüber. Aber abwegig ist das nicht, da sie aussahen wie Schwestern. Beide sind blond, haben blaue Augen und ihre Gesichtsformen sind auch sehr ähnlich. Nur Clara hat dunklere Haare und war einen Kopf größer als Anna. Natürlich können ältere Menschen denken, dass sie Schwestern seien, aber dazu sind sie dann doch zu verschieden. Auch kennen sie sich erst seitdem sie in diesem Wohnkomplex wohnen, was ungefähr drei Jahre waren.

Anna schaute weiter dem Geschehen da unten zu. Der LKW stand schon und die Umzugshelfer waren auch schon ausgestiegen und ließen jetzt die Laderampe runter. Sie schaute, ob sie den neuen Nachbar entdecken kann. Sie überlegte noch, wer es sein könnte: eine Frau, ein Mann, ein Pärchen oder eine Familie? Anna wusste, dass viele Wohnungen frei waren, dadurch war alles offen. Sie hoffte, dass ein hübscher Mann dabei war, egal ob Single oder vergeben. So viele hübsche Männer wohnen nicht im Wohnkomplex, es waren ältere Männer zu alt für Anna und Clara. Dadurch, dass es ein kleiner Laster war, war sie sich sicher, dass es nur eine Person oder ein Paar sein konnte.
Währenddessen entspannte Clara noch auf der Liege, bis Anna auf einmal rief: “Clara, ich glaube, da ist er!”
Clara öffnete die Augen und fragte: “Und ist es wieder ein Rentner?” “Nein, ein junger Mann, der sieht aus der Entfernung schon gut aus.”
Clara nahm ihre Sonnenbrille ab, setzte sich gerade auf und riskierte auch einen Blick nach unten. Dann sah sie ihn auch, ein junger Mann in den 20ern mit schulterlangen braunen Haaren. Er trug einen Vollbart. Von der Kleidung war er klassisch angezogen, eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt.
“Der sieht aus wie Jared Leto”, sagte Clara.
“Wie wer?”, fragte Anna, ohne ihren Blick von dem neuen Nachbar zu lassen.
“Der Sänger von Thirty Seconds to Mars. Er war auch in American Psycho zusehen”, sagte sie daraufhin.
“Vielleicht ist er auch ein Psycho”, sagte Anna und lachte kurz. “Dann wäre es nicht mehr so langweilig”, fügte sie hinzu.
Beide beobachteten das Ausladen weiter, um vielleicht an den Möbeln zu erahnen, wie der neue Nachbar war.

Viel war nicht in dem LKW drin und Clara glaubte zu wissen, dass es wohl seine erste eigene Wohnung war. Frisch vom Hotel Mama ausgezogen oder aus einem Studentenwohnheim. Das Ausladen war nicht so interessant wie gedacht. Was Interessant war, war wo er wohnt. Denn als die ersten Möbel ins Gebäude getragen wurden. War es im Hausflur laut geworden, im Hausflur auf Claras Etage. Anna sprang auf und rannte zur Tür und schaute durch den Spion. Viel sah Anna nicht nur, in welcher Wohnung die Möbel gebracht wurden.
“Er wohnt in der alten Wohnung von Herr Vogel, ist er nicht schon vor Monaten ausgezogen?”, fragte Anna.
“Ausgezogen ist er nicht, er ist gestorben”, antwortete Clara.
“So alt war er doch noch nicht”, erwiderte Anna.
“Aber Herzkrank”, sagte Clara, als sie langsam zu Anna ging, um auch was sehen zu können.
Als Clara durch den Spion schaute, gingen die Leute wieder aus der Wohnung, um die restlichen Möbel zu holen.
“Und da gehen sie wieder”, sagte Clara.
Anna, die neben ihr stand fragte: “Können wir nicht jetzt gucken, was auf seinem Klingelschild steht?”
“Nein, der Hausmeister lässt sich immer Zeit dafür. Er kann froh sein, wenn es noch in diesem Jahr geschieht”, sagte Clara und ging von der Tür weg.
“Wir wissen zumindest schon mal wo er wohnt”, sagte sie während sie in die Küche ging, um sich was zu trinken zu holen.
“Wir werden ihn noch oft genug sehen, glaub mir.”
Clara ging wieder auf den Balkon und legte sich wieder auf die Liege. Sie wollte die Sonne noch nutzen, bevor sie verschwindet.